Silke Stremlau im Interview: „Geld hat immer eine Wirkung“

Wir haben eine Erde. Doch 2050 benötigen wir für unseren wachsenden Ressourcenhunger bereits das Äquivalent von drei Erdplaneten.[1] Eine Begleiterscheinung des steigenden Verbrauchs ist das, was davon übrigbleibt: ein immer höher anwachsender Müllberg. Plastik, in unserem Alltag praktisch omnipräsent, ist in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel: Aus immer mehr Öl und Gas entstehen immer mehr Einweg-Verpackungen und damit immer mehr Plastikmüll. In den kommenden 20 Jahren dürfte sich die Menge an Plastikmüll in unseren Gewässern verdreifachen. 2050 ist von mehr Plastik- als Fischmasse in unseren Ozeanen auszugehen.[2] Eine weitere Zunahme der Treibhausgas-intensiven Plastikproduktion ist zudem mit dem 1,5 Grad-Ziel unvereinbar. Vor diesem Hintergrund sollten auch Finanzinstitutionen ihre eigene Rolle in der globalen Plastikkrise hinterfragen und überlegen, wie in Zukunft mit Firmen entlang des Plastiklebenszyklus umzugehen ist.

Zur Rolle von Finanzinstitutionen im Hinblick auf die Plastikverschmutzung führte Vanessa Müller, Projektkoordinatorin für Dirty Profits bei Facing Finance, ein Interview mit Silke Stremlau. Sie ist Vorständin der Hannoverschen Kassen und stellvertretende Vorsitzende des Sustainable Finance-Beirates der Bundesregierung. Das Interview entstand im Zusammenhang mit dem im Frühjahr erschienen Bericht Einweg ohne Ausweg sowie einer Diskussionsveranstaltung zu Banken und Einwegplastik.

Facing Finance: Warum gehört Sustainable Finance auf die strategische, politische Agenda und darf bei keinem Tischgespräch mehr fehlen? Welche Rolle spielen Finanzinstitutionen im Rahmen von gegenwärtigen und zukünftigen Krisen wie dem Klimawandel oder der Plastikverschmutzung und damit im Leben aller Menschen?

Silke Stremlau: Wir stehen vor gewaltigen Transformationen unserer gesamten Wirtschaft. Für die Energie-, Verkehrs-, Agrar- und Konsumwende sind massive Investitionen erforderlich, die die Staaten alleine nicht bewältigen können. Daher sind auch private Investitionen, vor allem von institutionellen Investor:innen gefordert, z.B. von Versicherungen, Pensionskassen, Stiftungen und Banken. Diese müssen sich immer mehr die Frage gefallen lassen, ob ihre Investitionen zur sozial-ökologischen Transformation beitragen oder ob sie sie konterkarieren. Geld hat immer eine Wirkung; es hängt nur davon ab, wofür wir es einsetzen. Und damit kann Sustainable Finance entscheidend zur Umlenkung von Geldern beitragen und zwar von nicht-nachhaltigen Branchen in zukunftsfähige Bereiche.

Facing Finance: Anfang Februar dieses Jahres hat der SF-Beirat der Bundesregierung 31 konkrete Empfehlungen überreicht. Einiges davon hat die Bundesregierung in ihre Strategie aufgenommen, wenn auch bisher an manchen Stellen noch vage und unverbindlich. Wenn Sie an das komplexe Thema Plastik und die lange Wertschöpfungskette denken, an welchen Stellen können die Beirats-Empfehlungen besonders gut ihre Wirkung entfalten? Und im nächsten Schritt: An welchen Stellen sollte das künftige Finanzministerium ggf. nachsteuern?

Silke Stremlau: Ehrlich gesagt ist das Thema Plastik noch gar nicht auf der Agenda von institutionellen Investor:innen. Das belegt ja auch eindeutig die Umfrage von facing finance bei den sonst ja engagierten Kirchenbanken. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass es kein klassisches “single issue” ist. Als Nachhaltige Investorin kann ich relativ einfach Produzenten von Landminen oder Unternehmen der Öl- und Kohleindustrie ausschließen, aber im Bereich der Plastikindustrie gibt es sowohl eine Reihe von Produzenten als auch eine Vielzahl von Unternehmen der Lebensmittel- und Konsumgüterindustrie, die zu den größten Plastikkonsumenten gehören. Wichtig an der Stelle ist sicherlich die Taxonomie der EU, die anhand von sechs Umweltzielen sehr genau definiert, was unter einer nachhaltigen Investition zu verstehen ist. Eines der sechs Umweltziele ist die Kreislaufwirtschaft. Mit diesem Ziel wird ein deutliches Zeichen gegen ein Mehr an Plastik und Einwegverpackungen gesetzt und genauestens definiert, an welchen Kriterien sich eine zirkuläre Wirtschaft messen lassen muss.

Zu Ihrer Frage nach den Steuerungsmöglichkeiten des Finanzministeriums: neben einem deutlichen Eintreten von Berlin in Brüssel für eine ambitionierte Taxonomie würde mir eine Aufnahme von einem Anti-Plastik-Kriterium in die Anlagekriterien für Vermögen des Bundes und der Länder vorschweben. Hier könnte der Bund bei allen seinen eigenen Vermögensanlagen führend werden, indem er sich aktiv für eine Kreislaufwirtschaft einsetzt und zum Beispiel durch Engagement-Strategien auf große Plastikproduzenten einwirkt.

Facing Finance: Ein Perspektivwechsel – Sie sind nicht nur stellvertretende Vorsitzende des SF-Beirates sondern auch Vorständin der Hannoverschen Kassen. Wie viel darf man von Banken und anderen Finanzinstitutionen erwarten? Ist es gerechtfertigt, Banken von Kohle über Plastik bis hin zu Menschenrechten mit in die Pflicht zu nehmen? Wo fängt die Verantwortung von Finanzinstitutionen an und wo hört sie auf?

Silke Stremlau: Das darf man auf jeden Fall erwarten. Denn wer Geld – vor allem im großen Stil – anlegt, hat eine Verantwortung, wo er oder sie es anlegt und welche Art von Wirtschaft damit unterstützt wird. Manchmal lerne ich Banker kennen, die ihre Geldanlage immer noch mehr als eine Art Roulette oder ein Hin- und Herschieben abstrakter Zahlen begreifen. Letztendlich müssen aber auch sie sich die Frage gefallen lassen, in was für einer Welt sie leben wollen. Und durch die vielen, kleinen Kreditentscheidungen, die jeden Tag in den Banken getroffen werden, und die über 10-20 Jahre zurück gezahlt werden, entscheiden Banker:innen über die Zukunft unserer Wirtschaft. Wird in eine Wirtschaft mit Paris-Kompatibilität investiert? Trägt der Kredit zur Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme bei? Oder nicht? Natürlich sind nicht alle Verantwortlichen in den Finanzinstitutionen gleich Nachhaltigkeitsexperten. Hier braucht es dringend eine Bildungsoffensive, ebenso wie in Aufsichtsräten, Ministerien und Aufsichtsbehörden. Und sicherlich ist es auch eine Überforderung des Finanzmarktes, die Rettung der Welt zu verlangen. Aber der Finanzmarkt spielt eine große Rolle und ich verlange von den Akteuren, dass sie diese Rolle annehmen, akzeptieren und sich an ihr messen lassen.

Facing Finance: Warum sollten sich Banken dem Thema Plastik überhaupt annehmen? Was haben sie davon?

Silke Stremlau: Ich gehe in den nächsten Jahren von einer sehr drastischen Erhöhung des CO2-Preises in Europa und weltweit aus, da die Politik erkennt, dass sie über die Internalisierung externer Kosten sehr viel schneller den Umbau in Richtung einer kohlenstoffarmen Wirtschaft leisten kann als über weitere Selbstverpflichtungen. Das Umweltbundesamt geht von einem Preis um die 180 Euro pro Tonne CO2 aus, um die wahren Preise der Erderhitzung widerzuspiegeln. Plastik besteht aus Erdöl und dürfte durch einen höheren CO2-Preis deutlich teurer werden. Als Bank oder institutionelle:r Investor:in muss ich also die finanziellen Risiken in meinem Portfolio aufgrund von Klimarisiken und CO2-Preis nicht nur im Hinblick auf die originären, energieintensiven Industrien, wie Kohle, Öl, Chemie, Stahl, Verkehr und Immobilien beachten und einpreisen, sondern auch auf die mittelbaren Industrien. Und wenn klar ist, dass die Plastikindustrie genauso viel CO2 emittiert wie die Kohleindustrie, sind hier die finanziellen Risiken aufgrund des Klimawandels für die Bankportfolien evident.

Facing Finance: Eine Schwierigkeit beim Thema Plastik im Gegensatz zu enger gefassten Branchen wie der Waffen- oder Glücksspielindustrie ist, dass in der Wertschöpfungskette viele Sektoren beteiligt sind, also u.a. die Öl- und Gasindustrie, die chemische Industrie sowie die Konsumgüter- bzw. Verpackungsindustrie. Mit welchen Strategien können sich Banken oder Pensionskassen solchen Themen annähern, wenn sie der Plastikverschmutzung etwas entgegensetzen möchten?

Silke Stremlau: Genau das macht es schwierig, das Thema einfach auf die Liste der Ausschlusskriterien zu setzen und die besagten zehn Titel auszuschließen. Ich glaube, hier ist die Engagement-Strategie am erfolgreichsten. Dazu sollten sich Investor:innen zusammenschließen, auf Plattformen oder in Netzwerken, wie z.B. beim AKI (Arbeitskreis kirchlicher Investoren) oder bei Shareholders for Change, oder vielleicht auf einer in Deutschland noch zu gründenden Engagement-Plattform. Und dann tritt man gebündelt als Investoren-Netzwerk gezielt an Unternehmen heran und versucht, Druck auszuüben, z.B. in Bezug auf die Abschaffung von Einwegverpackungen oder auf die verstärkte Nutzung von recycelten Kunststoffen oder auf Produktdesign à la cradle-to-cradle. Diese Dialoge finden hinter verschlossenen Türen statt, können aber gut durch Proteste und Kampagnen zivilgesellschaftlicher Organisationen flankiert werden. Aus der Vergangenheit kennen wir solche Engagement-Aktivitäten zu anderen Themen, z.B. zum Umgang mit Kinderarbeit, zum Ausstieg aus sehr umweltschädlichen Bauvorhaben etc. Oftmals sind diese Strategien, gerade wenn sich große Investoren zusammen tun, weit aus erfolgreicher als klassische Investments über Nachhaltigkeitsfonds.

Facing Finance: Zivilgesellschaftliche Organisationen und Bündnisse kritisieren einige Versuche seitens der Plastikindustrie wie chemisches Recycling oder Bioplastik als „falsche Lösungen“. Oft lenken die vermeintlichen Lösungen vom eigentlichen Problem, etwa der unnötigen Produktion, ab oder sie schaffen neue Probleme.[3] Wie können sich Finanzinstitutionen vor Greenwashing-Strategien seitens der Industrie schützen? Welche Fragen sollten sich Banken und Investoren stellen, wenn sie über Investitionen / Finanzierungen entscheiden?

Silke Stremlau: Ich glaube, wir brauchen da einen engen Austausch von Wissen und Know-how zwischen Finanzinstitutionen auf der einen Seite und Fach-NGOs und spezialisierten Rating-Agenturen auf der anderen Seite. All diese Nachhaltigkeitsthemen sind mittlerweile sehr komplex, und man muss manchmal tief in die Materie einsteigen, um die Fallstricke zu durchdringen. Da sollte man sich gegenseitig im Know-how-Aufbau unterstützen, um gut gemachtes Green-Washing zu enttarnen und die Unternehmen damit zu konfrontieren. Daher plädiere ich immer dafür, vor jeder Finanzentscheidung Nachhaltigkeitsratings von kritischen Ratingagenturen einzukaufen, da diese Agenturen einen umfassenderen Blick auf die Unternehmen und ihre Schattenseiten haben als ich in einer Pensionskasse oder Bank, deren Tagesgeschäft ein anderes ist.

Facing Finance: Wir befinden uns derzeit inmitten der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP. Was wünschen Sie sich von einer künftigen Bundesregierung?

Silke Stremlau: Ich wünsche mir, dass sie die Kraft des nachhaltigen Finanzmarktes für die sozial-ökologische Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft erkennen und nutzen. Sustainable Finance ist mehr als Divestment.

Dazu wäre es hilfreich, wenn sie viele unserer 31 Empfehlungen des Sustainable Finance Beirats schnell angehen würden, da Deutschland in den letzten Jahren einfach Zeit verschenkt hat. Ein „Quick Win“ wäre es, zuerst die umweltschädlichen Subventionen abzuschaffen, die das Umweltbundesamt identifiziert hat. Und danach den CO2-Preis erhöhen mit einem sozialen Ausgleich, ebenso wie die weitere Internalisierung externer Kosten. Dann erst, wenn die Preise die soziale und ökologische Wahrheit widerspiegeln, kann der Finanzmarkt Gelder auch richtig allokieren.

Wir danken Frau Stremlau für das Interview.

 

[1] United Nations (no date): Sustainable Development Goals – Goal 12: Ensure sustainable consumption and production patterns. Website. Zugriff am 9.11.2021 über: https://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-consumption-production/

[2] Woolven, James für die Ellen MacArthur Foundation (25.05.2021): The solution to plastic pollution. Zugriff am 9.11.2021 über: https://ellenmacarthurfoundation.org/articles/the-solution-to-plastic-pollution

[3] Break Free From Plastic (2020): Branded Vol. III – Demanding Corporate Accountability for Plastic Pollution. Pp. 41-45. Zugriff am 9.11.2021 über: https://www.breakfreefromplastic.org/wp-content/uploads/2020/12/BFFP-2020-Brand-Audit-Report.pdf

Greenpeace US (2019): Throwing Away The Future: How companies still have it wrong on plastic pollution “solutions”. Zugriff am 9.11.2021 über: https://www.greenpeace.org/usa/wp-content/uploads/2019/09/report-throwing-away-the-future-false-solutions-plastic-pollution-2019.pdf