Nachdem die EU-Kommission zu Jahresbeginn verkündete, Atomkraft und Erdgas – entgegen den Empfehlungen des eigenen Beratungsgremiums EU Platform on Sustainable Finance – als klimafreundliche Energiequellen einzustufen, entbrannte eine Diskussion um die Glaubwürdigkeit der EU-Taxonomie.[1] Umweltverbände und Zivilgesellschaft kritisierten die Entscheidung scharf.[2] Auch Facing Finance warnte bereits im März 2022, am Jahrestag der Reaktorkatastrophe in Fukushima, vor einem Etikettenschwindel und kritisierte, dass Atomkraft und Gas in einem sozial-ökologisch nachhaltigen Europa keine Zukunft haben könnten.[3] Nun hat am 6. Juli das Europäische Parlament abgestimmt und das umstrittene EU-Nachhaltigkeitslabel für Gas und Atomkraft abgesegnet – trotz der Ablehnung der eigenen Umwelt- und Wirtschaftsausschüsse. Dass der Ministerrat noch gegen die Taxonomie-Verordnung in ihrer jetzigen Form votiert, gilt als ausgeschlossen. Österreich, aber auch Luxemburg erwägen daher vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen.[4]
Anlässlich der aktuellen Entwicklungen und mit Blick auf den seit über vier Monaten andauernden Krieg in der Ukraine, teilen wir hier einen Auszug aus unserem im Mai erschienenen Bericht Dirty Profits 9: How much Pain for Corporate Gain?. Der Text legt offen, in welchem Ausmaß das russische Regime von der internationalen Öl- und Gasindustrie finanziell profitierte und damit letztlich auch den Angriffskrieg in der Ukraine finanzieren konnte. Auch deutsche Finanzinstitute sind involviert.
Das legt ein weiteres Gewicht in die Waagschale, wenn es um die vermeintliche Nachhaltigkeit der Energiequelle Erdgas geht. Doch auch die europäische Kernenergie ist kritisch mit Russlands Staatsbetrieben vernetzt. 18 Atomkraftwerke in der EU sind zu 100 % von russischen Brennelementen abhängig,[5] weshalb russische Interessengruppen vehement bei der EU-Kommission lobbyierten, wie eine aktuelle Recherche von Greenpeace belegt.[6]
Der Text (Stand: Mai 2022) wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Inhaltliche Aktualisierungen wurden nicht vorgenommen. Der Originaltext samt Quellenverzeichnis kann hier heruntergeladen werden.
PAVING THE WAY TO HELL: DIE FINANZIERS VON PUTINS KRIEG
„Putins Mobilisierungskraft ist größer als die des Klimawandels,“ zu diesem Schluss kam der Politologe Ivan Krastev angesichts Putins Einmarsch in die Ukraine im März 2022 (Gorris 2022, 29). Und in der Tat: In den Tagen und Wochen nach Putins Einmarsch in die Ukraine folgten eine Sanktionswelle sowie der Rückzug von Privatunternehmen aus Russland in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Zu den Unternehmen, die begannen, sich aus dem russischen Markt zurückziehen zählten westliche Gas- und Ölriesen wie BP, Shell und ExxonMobil, die Zahlungsdienstleister Visa, Mastercard, American Express und PayPal, die Fastfood-Kette McDonald’s sowie der Unterhaltungsdienst Netflix (Partalidou 2022; Race / Hooker 2022). Das geschlossene und schnelle Handeln einiger westlicher Unternehmen und Regierungen dürften Putin überrascht haben. Ähnliche Reaktionen blieben bei der illegalen Annexion der Krim im Jahr 2014 aus, als der Westen stillschweigend zusah. Auch andere Kriege und schwere humanitäre Krisen, wie in Syrien oder im Jemen, oder auch die Bedrohung durch den Klimawandel haben bislang keine ähnlichen kollektiven Maßnahmen ausgelöst. Denn:
„nun, da russische Panzer bereit sind, durch die Straßen von Kiew zu rollen und das Risiko besteht, dass der Konflikt auf andere europäische Länder überspringt, ist die europäische Haltung eine andere. Regierungen bieten militärische Unterstützung an, nehmen Vertriebene auf und Unternehmen und Investoren ziehen sich zurück. Denn da ist ein wesentlicher Unterschied zwischen Putin und Assad: Putin bedroht die Leben und Interessen Europas, Assad nicht. Syrische Leben waren es nicht wert.“ (van Gelder 2022, 7)
Mit der Zeit hat Putin ein Narrativ geschaffen, dass die demokratische Regierung der Ukraine diskreditiert: Seit der ehemalige pro-russische Präsident Janukowitsch infolge der Euromaidan-Proteste in den Jahren 2013 und 2014 gestürzt wurde, beschuldigt Putin die Ukraine, von antirussischen Extremisten übernommen worden zu sein. Die Proteste brachen aus, als Putins Regime den ukrainischen Präsidenten 2013 unter Druck setzte, kein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Putins Reaktion: die Annexion der Krim im Süden der Ukraine und das Auslösen einer separatistischen Rebellion im Donbass. In den letzten acht Jahren sind diesem Krieg 14 000 Menschen zum Opfer gefallen (Kirby 2022). Doch weder der Verlust von Tausenden von Menschenleben in der Ukraine noch der Abschuss von 298 Passagieren und Besatzungsmitgliedern des Malaysia Fluges MH17 haben den Westen veranlasst, so drastische Sanktionen zu verhängen oder seine Beziehungen zu Russland zu überdenken. Ende 2021 verlegte Putin eine wachsende Anzahl von Truppen an die ukrainisch-russischen Grenze, bestritt aber öffentlich, dass er eine Invasion plane. Am 24. Februar 2022 setzte Putin das Minsker Friedensabkommen von 2015 für die Ostukraine aus und erkannte die von den Rebellen kontrollierten Gebiete als unabhängig an (Kirby 2022). Wie viele Menschen diesem Angriffskrieg seit Februar bereits zum Opfer gefallen sind, ist ungewiss, genauso wie der Ausgang dieses unnötigen Krieges.
Es steht außer Zweifel, dass frühere politische und investitionsbezogene Entscheidungen von Regierungen, Unternehmen und Finanzinstitutionen den Weg für Putins Krieg geebnet und die wirtschaftliche und militärische Macht des Regimes gestärkt haben (Partalidou 2022; van Gelder 2022, 1). Nachdem sie jahrelang die russische Regierung unterstützt haben, müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs der Aggression nun mit rigiden Gegenmaßnehmen begegnen. Die erlassenen Sanktionen werden das russische Volk unverhältnismäßig stark treffen, dass diesen Krieg nicht gewollt hat, und zusätzlich die bereits gewaltsam unterdrückte Opposition weiter schwächen.
Die Abhängigkeit Europas von russischen Rohstoffen und fossilen Brennstoffen verschlimmert die Situation weiter. Wie van Gelder feststellt, „überwogen Putins kontinuierliche Verstöße gegen humanitäre, ethische und juristische Prinzipien in den vergangenen Jahrzehnten nicht die reichlichen Öl-, Gas- und Kohlereserven, die er zu bieten hatte“ (van Gelder 2022, 1). Europäische Unternehmen, Banken und Investoren haben den russischen Öl- und Gassektor kontinuierlich weiterfinanziert, und damit auch die Regierung und indirekt die Produktion von (Atom-)Waffen (ebd.). Zudem wurden die Umwelt- und Klimaauswirkungen von Unternehmen, die in sensiblen russischen Ökosystemen tätig sind durchgehend vernachlässigt. Shell und seine Finanziers haben beispielsweise Belege für die zerstörerischen sozialen und ökologischen Folgen des Sakhalin LNG-Projekts ignoriert (van Gelder 2022, 2). Es hat mehr als 20 Jahre und eine Invasion der Ukraine gebraucht, bis Shell sich nun endlich von diesem und anderen russischen Projekten trennt. Andere Energieunternehmen sind der Entscheidung ihrer Konkurrenten nicht oder nur halbherzig gefolgt.
Europäische Banken und Investoren gehören zu den wichtigsten Finanziers der russischen Öl-, Gas- und Kohleindustrie, was die Exploration und Produktion, Pipelines und andere für die Lagerung und den Transport benötigte Infrastruktur anbelangt (van Gelder 2022, 2). Deutsche Finanzinstitute bilden dabei keine Ausnahme: Zwischen 2016 und 2021 haben die Commerzbank (1,4 Milliarden US-Dollar) und die Deutsche Bank (577 Millionen US-Dollar) den russischen Kohlebergbausektor bei der Kreditvergabe kräftig unterstützt. Seit Dezember 2021 waren viele deutsche Finanzinstitute in russische Öl- und Gasunternehmen (Deutsche Bank mit 364 Millionen US-Dollar, Allianz mit 237 Millionen US-Dollar, Deka Gruppe mit 139 Mio. US-Dollar) sowie in den dortigen Kohlebergbau (Deutsche Bank mit 12 Millionen US-Dollar) investiert (van Gelder 2022, 2ff.). Zahlreiche europäische Investoren, wie Pensionsfonds, Lebensversicherungen und Vermögensverwalter, haben ebenso in russische Staatsanleihen investiert. Die Erlöse aus diesen Anleihen werden direkt zur Finanzierung der russischen Staatsausgaben verwendet und dienen damit auch der Finanzierung des Angriffskrieges gegen die Ukraine (van Gelder 2022, 4). Deutsche Finanzinstitute sind die größten europäischen Investoren in russische Staatsanleihen: Allein die Allianz hält mit 2,6 Milliarden US-Dollar etwa 43 % aller europäischen Investitionen. Alle deutschen Investoren zusammen halten diese Anleihen im Wert von mehr als 2,9 Milliarden US-Dollar (neben der Allianz: DZ Bank mit 141 Millionen US-Dollar, Deka Gruppe mit 99 Mio. US-Dollar, Deutsche Bank mit 42 Mio. US-Dollar, Münchener Rück mit 16 Millionen US-Dollar). Insgesamt belaufen sich alle europäischen Investitionen in russische Staatsanleihen auf 6,1 Milliarden US-Dollar (van Gelder 2022, 5).
Ohne europäische Regierungen, Unternehmen und Investoren, die die russische Wirtschaft stärken, wäre der Krieg gegen die Ukraine nicht möglich gewesen. Es ist unerträglich, dass einige Unternehmen und Finanzakteure sich noch nicht aus dem russischen Markt zurückgezogen haben und damit diesen Krieg weiterhin finanzieren. Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine sollten ein Weckruf sein, der zu „einer auf Menschenrechten und Nachhaltigkeit basierenden Regierungspolitik und einer neuen, aufrichtigen Welle von Corporate Social Responsibility (CSR) in der Unternehmens- und Finanzwelt“ (van Gelder 2022, 7) führt.
Banken und Investoren sollten Verantwortung übernehmen und auf Veränderungen hinwirken, indem sie die Kapitalallokation von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien umschichten und die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht bei allen Finanzierungs- und Investitionsentscheidungen berücksichtigen, um damit autoritäre Regime, die Menschenrechtsverletzungen verursachen oder dazu beitragen, nicht länger zu unterstützen.
Darüber hinaus sollten Finanzinstitute Unternehmen, die an der Produktion oder Wartung von Atomwaffen beteiligt sind, kein Kapital zur Verfügung stellen (ebd.). Wie der Politikwissenschaftler Krastev erklärt, „Die Welt der Globalisierung und des Freihandels, in der die Wirtschaft sich nicht für Politik interessiert, sondern nur dafür, gute Geschäfte zu machen, wird vorbei sein“ (Gorris 2022, 29), was auch und gerade für Finanzdienstleister gilt.
Die Bereitschaft der meisten europäischen Politiker sowie einiger Unternehmen und Finanzakteure, sich gemeinsam gegen das Putin-Regime zu stellen und das ukrainische Volk zu unterstützen, ist positiv. Doch bei weitem nicht alle Unternehmen, Banken und Lebensversicherer zeigen aktive Solidarität. Es ist bedauerlich, dass eine humanitäre Katastrophe dieses Ausmaßes notwendig war, damit Europa die Notwendigkeit für kollektives Handeln erkennt.
Ähnliche Anstrengungen werden nötig sein, um gegen den Klimawandel und Menschenrechtsverletzungen weltweit anzugehen.
Autorin: Sophia Grill
[1] tagesschau.de (02.02.2022): EU stuft Atomkraft und Erdgas als nachhaltig ein. Abgerufen am 7. Juni 2022: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/taxonomie-atomkraft-eu-kommission-101.html
[2] Climate Action Network (CAN) Europe (2022): The EU can’t afford labelling fossil gas and nuclear as green. Blogpost. Abgerufen am 7. Juni 2022: https://caneurope.org/the-eu-cant-afford-labelling-fossil-gas-and-nuclear-as-green/
WWF Österreich (02.12.2021): WFF warnt: 10 Gründe gegen Atomkraft und Gas in der EU-Taxonomie. Abgerufen am 7. Juni 2022: https://www.wwf.at/wwf-warnt-10-gruende-gegen-atomkraft-und-gas-in-der-eu-taxonomie/
[3] Sophia Grill (11.03.2022): Etikettenschwindel EU-Taxonomie? 11 Jahre nach Reaktorkatastrophe in Fukushima stuft EU-Kommission Atomkraft und Erdgas als nachhaltig ein. Facing Finance. Abgerufen am 7. Juni 2022: https://www.facing-finance.org/de/2022/03/etikettenschwindel-eu-taxonomie-11-jahre-nach-reaktorkatastrophe-in-fukushima-stuft-eu-kommission-atomkraft-und-erdgas-als-nachhaltig-ein/
[4] Noyan, Oliver (07.07.2022): Austria to challenge taxonomy in EU court. Abgerufen am 7. Juni 2022: https://www.euractiv.com/section/energy-environment/news/austria-to-challenge-taxonomy-in-eu-court/
[5] Nuclear Free Future Foundation / Rosa-Luxemburg-Stiftung / Greenpeace / Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland / .ausgestrahlt (2022): URAN Atlas. Daten und Fakten über den Rohstoff des Atomzeitalters. Abgerufen am 7. Juni 2022: https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/publikationen/atomkraft/atomkraft_bund_uranatlas_2022.pdf
[6] Weiland, Michael (17.05.2022): EU-Taxonomie nach russischem Wunsch. Greenpeace. Abgerufen am 7. Juni 2022: https://www.greenpeace.de/klimaschutz/energiewende/atomausstieg/eu-taxonomie-russischem-wunsch