Etikettenschwindel EU-Taxonomie? 11 Jahre nach Reaktorkatastrophe in Fukushima stuft EU-Kommission Atomkraft und Erdgas als nachhaltig ein

Die neue Taxonomie der EU-Kommission deklariert Gas und Atomkraft – unter bestimmten Auflagen – als nachhaltig. Einige Länder planen bereits, Klage einzureichen. 11 Jahre nach dem Super-GAU [1] in Fukushima und in Anbetracht der Invasion der Ukraine sowie Putins Drohungen hinsichtlich eines Nuklearkrieges [2] wirkt dies beinahe wie ein schlechter Scherz. Höchste Zeit, sich die Nuklearkatastrophe von damals wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Heute jährt sich die Reaktorkatastrophe von Fukushima zum elften Mal. Ein starkes Seebeben am 11. März 2011 im Nordosten Japans löste den schwersten Atomunfall seit Tschernobyl im Jahr 1986 aus. Als Folge des Bebens der Stärke 9,0 – eine der stärksten je gemessenen Erschütterungen – raste ein Tsunami auf Japans Küste zu. Das nahe am Meer gelegene Atomkraftwerk Fukushima Daiichi wurde von einer 15 Meter hohen Flutwelle getroffen. Durch die Überschwemmung der Anlagen fiel das Kühlsystem aus, woraufhin es in drei der sechs Reaktoren zur Kernschmelze kam. Infolgedessen wurden große Mengen radioaktiven Materials freigesetzt, welche Luft, Böden, Wasser und Nahrungsmittel kontaminierten. Die Dauer der Entsorgungsarbeiten wird wohl noch 30 bis 40 Jahre andauern, die Folgekosten der Katastrophe werden bislang auf 175 bis 500 Milliarden Euro geschätzt [3][4].

Damals saß der Schock vielen tief in den Knochen. Auch durch den Druck der in Deutschland traditionell ausgeprägten zivilgesellschaftlichen Proteste gegen Atomkraft, beschloss die Bundesregierung unter Angela Merkel einen schnellen Ausstieg aus der nuklearen Energiegewinnung. Die Katastrophe gilt als Wendepunkt in der deutschen Atompolitik. Seither wurden vierzehn der siebzehn deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet, die letzten drei sollen bis Ende 2022 folgen [5].

Vor dem Hintergrund dieses Atomunfalls scheinen die aktuellen Vorgänge auf EU-Ebene besonders bizarr: Durch die aktuelle Entscheidung der Kommission könnten Investitionen in Gas und Atomkraft im Rahmen der EU-Taxonomie-Verordnung künftig als nachhaltig eingestuft werden. Die Taxonomie ist ein Regelwerk, in welchem die EU-Kommission einheitliche Standards für ökologisches Wirtschaften festlegt und so entscheidet, welche Aktivitäten nach offiziellen EU-Verständnis als nachhaltig bzw. „grün“ definiert werden. Ziel der Taxonomie ist damit eigentlich, Geldströme verstärkt in nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten zu leiten, um bis zum Jahr 2050 als erster Kontinent die Klimaneutralität zu erreichen [6].

Doch wie kam es überhaupt zu dieser kontroversen Entscheidung und wer profitiert von der Aufnahme von Atomkraft und Erdgas in die EU-Taxonomie? Laut Recherchen von Greenpeace und SPIEGEL zieht vor allem Frankreich Nutzen aus dem neuen grünen Label für Atomkraft [7]. Staatspräsident Macron spricht von einer „Renaissance der Atomkraft“, und plant den Bau von bis zu vierzehn neuen Reaktoren bis 2050 [8]. Mindestens 33 Milliarden Euro an Investitionssummen sollen allein für diejenigen Projekte innerhalb der EU fließen, welche mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit realisiert werden. Gleichzeitig profitieren Italien, Griechenland, Deutschland und wohl auch Polen von der Förderung von Gaskraftwerken. Für geplante Gaskraftwerke geht Greenpeace bereits von Investitionssummen über etwa 23 Milliarden Euro aus. Zwar muss für das grüne Label der EU-Taxonomie für jedes neu gebaute Gaskraftwerk ein altes, klimaschädlicheres Kohle- oder Ölkraftwerk vom Netz gehen, jedoch existieren hierfür keine spezifischen Bedingungen. So können etwa alte Kohlemeiler, welche sowieso vom Netz genommen würden, mit neuen Gaskraftwerken „verrechnet“ werden [9]. Von der Einstufung als „ökologische Investition“ profitiert also insbesondere die Atom- und Gasindustrie in den genannten Ländern, welche über die EU -Taxonomie in der Lage ist, mehr Privatinvestitionen anzuziehen.

Wie ökologisch und sozial nachhaltig sind Atomkraft und Erdgas tatsächlich?

Entgegen der häufigen Behauptung sind Kernkraftwerke im Vergleich zu Braunkohlekraftwerken zwar CO2-ärmer, aber keineswegs CO2-neutral. Laut Umweltbundesamt sind die Treibhausgasemissionen hauptsächlich der Stromproduktion vor- und nachgelagert, was wohl zu dem Irrglauben einer CO2-neutralen Atomkraft beiträgt. Berücksichtigt man jedoch den gesamten Prozess der Atomstromgewinnung, von Uranabbau über Kraftwerksbau bis Endlagerung, so ist in sämtlichen Phasen ein hoher Energieaufwand nötig, der mit CO2-Emissionen einhergeht [10]. Abgesehen von den Sicherheitsrisiken ist auch das Problem der Endlagerung des verstrahlten Mülls weiterhin ungelöst. Außerdem kann eine militärische Nutzung von radioaktivem Material durch Staaten in Form von Atomwaffen nicht ausgeschlossen werden. Unbedingt sollten auch die weiteren gravierenden Auswirkungen von Atomstrom auf Umwelt und Menschen berücksichtigt werden. Der Abbau von Uran findet unter hohem Ressourcenverbrauch vorwiegend in Kanada, Australien, Kasachstan, Russland, Niger, Namibia, Usbekistan und den USA statt. Regelmäßig werden dort ganze Landstriche kontaminiert, für eingesetzte Arbeitskräfte kann es zudem zu erheblichen gesundheitlichen Schäden kommen [11]. Dazu befinden sich etwa 70% des weltweiten Uranvorkommens auf den Gebieten indigener Bevölkerungsgruppen [12], welche dadurch einer erhöhten Strahlung ausgesetzt sind. Zu guter Letzt sei zu erwähnen, dass Atomkraftwerke äußerst kostspielig sind und nur durch massive Subventionen und Strompreisgarantien betrieben werden können. Der BUND Landesverband Baden-Württemberg fasst dies folgendermaßen zusammen: „Erneuerbare Energien sind deutlich preisgünstiger. Von Energiegenossenschaften profitieren viele und nicht nur Großkonzerne“ [13]. Bezeichnend ist, dass sogar die Betreiber deutscher Kernkraftwerke Diskussionen zu Laufzeitverlängerungen abgelehnt hatten, welche etwa die Werteunion 2019 anzustoßen versuchte. Gesellschaftlich und langfristig auch unternehmerisch würde sich die Aufkündigung des beschlossenen Atomausstiegs für die Betreiberfirmen nicht lohnen [14].

Geht es um Gaskraftwerke, ist es aufgrund der hohen CO2-Emissionen aus wissenschaftlicher Perspektive nicht zu rechtfertigen, diese als grün einzustufen. Aber auch aus politischer Sicht ist das Festhalten an dem fossilen Brennstoff problematisch: Ein Drittel des europäischen Gasbedarfs wird derzeit von Russland bedient [15]. Diese Abhängigkeit ist gerade auch in Anbetracht des Krieges Russlands gegen die Ukraine fatal. Die Inbetriebnahme der Pipeline Nordstream 2 würde diese Abhängigkeit weiter verschärfen. Schon vor Russlands massivem Militärangriff auf die Ukraine am 24. Februar wurde das Projekt u.a. von Polen und der Ukraine heftig kritisiert. Seit der Orangenen Revolution (im Jahr 2004), infolge derer die Ukraine engere Verbindungen zum Westen und eine eventuelle EU- und Nato-Mitgliedschaft anstrebte, war Russland immer weniger bereit, im Erdgasbereich mit der Ukraine zusammen zu arbeiten. Dementsprechend sollten die Nordstream Pipelines alte ukrainische Transitpipelines ablösen und russisches Gas direkt durch die Ostsee nach Westeuropa transportieren [16]. Nun ist ungewiss, ob Nordstream 2 jemals ans Netz gehen wird. Das Genehmigungsverfahren ist vorerst ausgesetzt, die USA erheben zusätzlich Sanktionen gegenüber der Betreibergesellschaft [17]. Die Nord Stream 2 AG steht seither kurz vor der Insolvenz, alle 140 Mitarbeiter*innen sind bereits gekündigt [18].

Dies zeigt einmal mehr, dass Atomkraft und Gas in einem sozial-ökologisch nachhaltigen Europa keine Zukunft haben, und der Vorschlag der EU-Kommission fehlgeleitet ist. Gasverstromung ist klimaschädlich und verschärft unsere Abhängigkeit von Russland, Atomstrom weist erhebliche Sicherheits- und Umweltrisiken auf und ist darüber hinaus unrentabel und teuer. Eine Jahrhundertkatastrophe wie in Fukushima darf sich nicht wiederholen. Zum anderen zeigt der Krieg in der Ukraine, wie groß die Risiken der Atomkraft sind: Nicht nur menschliches oder technisches Versagen, Naturkatastrophen oder Terroranschläge, sondern eben auch ein Krieg kann diese Kraftwerke in kurzer Zeit zu riesigen Bedrohungen werden lassen. Die vermeintlich „grünen“ Investitionen in Atom- und Gaskraftwerke stehen einer echten Energiewende entgegen, da diese Geldflüsse für den Ausbau der erneuerbaren Energien nicht mehr zur Verfügung stehen. Insofern das Europäische Parlament und die EU-Mitgliedstaaten innerhalb der nächsten drei Monate keine Mehrheiten für ein Veto finden, wird die vorgelegte Taxonomie trotz alldem angenommen werden [19].

 

Facing Finance e.V. hat neben 91 anderen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftliche Organisationen einen offenen Brief unterzeichnet, welcher der EU-Kommission attestiert, es versäumt zu haben, eine „wissenschaftlich fundierte“ Taxonomie der Nachhaltigkeit vorzulegen. Um massives Greenwashing zu verhindern, fordern wir die Finanzinstitute auf, sich öffentlich zu verpflichten sowohl fossiles Gas als auch Kernenergie aus all ihren Produkten und Anleihen auszuschließen, die als nachhaltig, grün oder verantwortungsvoll vermarktet werden.

Ob Ihre Bank Atomenergie oder die Förderung und Verstromung fossiler Brennstoffe finanziert, können Sie im neuen Fair Finance Guide überprüfen.

Hier gelangen Sie außerdem zum Eil-Appell des BUND gegen die EU-Pläne zu Atomkraft und Erdgas.

 

Autorin: Sophia Grill

[1] GAU steht für „größter anzunehmender Unfall“ und bezeichnet den schlimmsten denkbaren Störfall eines Kernkraftwerks, auf den die Sicherheitssysteme der Anlage vorbereitet sein müssen. Ist ein Reaktorunfall nicht mehr beherrschbar und kommt es zu einer Kontamination der Umwelt, so spricht man von einem Super-GAU. Siehe dazu auch https://www.planet-wissen.de/technik/atomkraft/grundlagen_der_atomkraft/pwiegauundsupergau100.html#Super-GAU.

[2] https://amp.zdf.de/nachrichten/politik/atomwaffen-russland-ukraine-krieg-100.html

[3] https://www.dw.com/de/fukushima-und-die-folgen-in-deutschland/a-15562222

[4] https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/10-jahre-nach-fukushima-1873572

[5] https://www.bmuv.de/themen/atomenergie-strahlenschutz/nukleare-sicherheit/aufsicht-ueber-atomkraftwerke/atomkraftwerke-in-deutschland

[6] https://www.deutschlandfunkkultur.de/eu-taxonomie-atomkraft-erdgas-100.html

[7] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/gas-atomkraft-und-die-eu-taxonomie-welche-laender-sich-besonders-gruenwaschen-duerfen-a-96ee3007-df94-4230-9ae7-3afec90dd1ea

[8] https://www.spiegel.de/wirtschaft/atomkraft-frankreich-will-bis-zu-14-atomreaktoren-bauen-und-50-offshore-windparks-a-07757d4f-3100-48ff-b200-ea014085e56f

[9] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/gas-atomkraft-und-die-eu-taxonomie-welche-laender-sich-besonders-gruenwaschen-duerfen-a-96ee3007-df94-4230-9ae7-3afec90dd1ea

[10] https://www.umweltbundesamt.de/service/uba-fragen/ist-atomstrom-wirklich-co2-frei

[11] https://www.bund-bawue.de/themen/mensch-umwelt/atomkraft/atomkraft-und-klimaschutz/

[12] https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/publikationen/atomkraft/uranatlas_2019.pdf

[13] https://www.bund-bawue.de/themen/mensch-umwelt/atomkraft/atomkraft-und-klimaschutz/

[14] https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/akw-betreiber-gegen-laengere-laufzeiten-die-nutzung-der-kernenergie-hat-sich-erledigt/24422262.html

[15] https://www.spiegel.de/geschichte/nord-stream-2-wie-europa-im-kalten-krieg-von-russlands-gas-abhaengig-wurde-a-fed5a096-c344-44d4-99e6-00473cd93af3

[16] ebd.

[17] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/nord-stream-2-usa-sanktionen-105.html

[18] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/nord-stream-insolvenz-gazrom-gas-pipeline-russland-ukraine-101.html

[19] https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/eu-taxonomie-atomkraft-und-gas-sollen-offiziell-gruen-werden/